Der Luzifer-Effekt

Richard Petersen • 27. September 2024

Steckt das "Böse" in uns allen?

Heute geht es um die alte Frage, ob jeder von uns, in bestimmten Situationen, zum Mörder werden kann.

Wir, die wir uns doch wenigstens weitgehend als moralisch integer und charakterfest bezeichnen.

Können wir alle schreckliche Verbrechen begehen und diese auch moralisch rechtfertigen? Ist etwas vom „Bösen“ in uns allen? Und wo liegt die Grenze zwischen Gut und Böse? Wie können scheinbar aufrichtige Menschen dazu verleitet werden, Unmoralisches zu tun – oder sogar wie aus heiterem Himmel heraus sadistisch zu handeln?


„Wenn es keinen Teufel gibt, dann gibt es auch keinen Gott“ erklärte vor einiger Zeit der Regensburger Bischof Rudolf Graber. Seine Meinung begründete der Bischof damit, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“.

“Wenn es den Bösen nicht gibt, dann ist der Mensch allein schuldig an den Morden im Archipel Gulag und an den Gaskammern von Auschwitz, an den unmenschlichen Folterungen und Qualen.“

Nun ist, nach christlicher Lehre, der Mensch ein Geschöpf Gottes. Einen Gott aber, der eine solche Bestie geschaffen habe, darf es nicht geben. Also gibt es Gott nur, wenn es auch den Teufel gibt, der für diese Untaten verantwortlich gemacht werden kann.

 

Wie auch immer. Betrachten wir das Thema vielleicht lieber von einer anderen Seite.

Es kann sein, dass jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund gegebener sozialer und struktureller Umstände die Notwendigkeit oder Verpflichtung empfindet, die Grenze zum Bösen oder zur Grausamkeit zu überschreiten. In diesem Moment sprechen wir vom "Luzifer-Effekt".


Sidekick: Luzifer, ein Synonym für Satan, war nach christlicher Lehre, einst der "Lichtträger" und der Lieblingsengel Gottes, wurde aber aufgrund seiner Machtgier in die Hölle geschickt.


Der "Luzifer-Effekt" kann überall und zu jeder Zeit unseres alltäglichen Lebens auftreten. Er bewirkt im Menschen eine spontane Transformation. Der Effekt kann eine scheinbar gesunde, gut ausgebildete und nette Person dazu bringen, abscheuliche Taten zu begehen. Es sind Menschen betroffen, die keine schwere oder traumatische Vergangenheit hinter sich haben, die aber durch den mächtigen Einfluss einer bestimmten Situation entmenschlicht werden.


Es ist die Nacht vom 28. April 2004. Die meisten US-Amerikaner beenden gerade ihr Abendessen und setzen sich vor den Fernseher, um die Sendung „60 Minutes“ zu schauen. Doch die heutige Sendung ist anders. Der Sender bot seinen Zuschauern die Möglichkeit, etwas zu sehen, auf das viele nicht vorbereitet waren.


Gezeigt wurden Bilder des Abu-Ghuraib-Gefängnisses im Irak, in dem eine Gruppe amerikanischer Soldaten, Männer und Frauen, die irakischen Gefangenen auf abscheulichste und erniedrigendste Weise misshandelten, folterten und vergewaltigten. Spätere Medienberichte sprachen übereinstimmend von ca. 100 Todesopfern durch Folter.

Die meisten der Insassen seien „Unschuldige [gewesen], die zur falschen Zeit am falschen Ort waren“, sagte ein US-General später.

Aufgedeckt wurde der Skandal durch die Veröffentlichung von Beweisfotos und -videos durch die Presse. Ein Teil der Bilder wurde im Mai 2004 veröffentlicht, ein weiterer Teil im Februar und März 2006.

Die US-amerikanische Gesellschaft betrachtete die Bilder mit Bestürzung, bedeuteten sie doch nichts Geringeres als einen radikalen Widerspruch gegenüber ihren nach außen hin gezeigten Überzeugungen. Plötzlich waren jene die Bösen, welche sie noch kurz zuvor für die Guten hielten. Retter wurden zu Tätern. Hatten sie die Fähigkeiten des amerikanischen Militärs überschätzt?

Einer der Menschen, die diese Szenen mit großer Angst verfolgten, war der bekannte Psychologe Philip Zimbardo. Doch für ihn waren diese Taten nicht neu, sie waren nicht seltsam und sie waren nicht unerklärlich. „Der Luzifer-Effekt“ wurde von ihm verfasst. Zimbardo wurde weltbekannt, als er 1971 das Stanford-Prison-Experiment durchführte.


Dennoch gibt es vielleicht einige, die zweifeln und sagen würden, dass diese Art von blindem Gehorsam nur bei Menschen stattfindet, die leicht schwanken und von anderen beeinflusst werden können. Es könnte angenommen werden, dass diejenigen, die willensstark und rechtschaffen sind, sich keiner unmoralischen Autorität beugen würden. Aber ist das wirklich der Fall?


In einem Psychologiekurs an der Universität von Hawaii erzählte ein Professor den 570 anwesenden Studenten, dass ihr Land vor einer Bevölkerungsexplosion stehe und nur ein wissenschaftliches Projekt diese lösen könne.

Mit anderen Worten, das Projekt würde darin bestehen, die „nicht angepassten“ Menschen zu beseitigen. Im Namen der wissenschaftlichen Forschung versuchte dieser Professor, seinen Plan, andere zu töten, zu rechtfertigen.

Den Studenten wurde auch gesagt, dass ihre Meinungen gefragt seien, weil sie intelligent, gut gebildet und moralisch wertvoll seien. Daher wurden sie gebeten, einen Fragebogen zu dem Projekt auszufüllen, um ihre persönlichen Ansichten und Vorschläge auszudrücken.

Laut der Umfrage glaubten 91 % der Studenten, dass unter extremen Umständen diese Lösung, die Beseitigung der Unangepassten, durchaus gerechtfertigt sei. Selbst wenn dieser tödliche Plan gegen die eigene Familie angewendet wurde, unterstützten noch 29 % der Befragten ihn, während nur 6 % der Studenten sich weigerten zu antworten.

Das bedeutet, dass in kurzer Zeit der Professor, der autoritäre Repräsentant, die Universitätsstudenten dazu brachte, eine entmenschlichende Mordkampagne nur mit einem kurzen wissenschaftlichen Bericht und einem Fragebogen zu billigen. Gleichzeitig hinterfragten nur sehr wenige von ihnen, ob diese Mordkampagne wissenschaftlich oder gesetzlich war.

Blind wurden sie zu Komplizen, die des Teufels würdig sind.


Es war Afrikas Albtraum: Und es waren nicht feindliche Armeen, die das Verbrechen begingen, sondern ehemalige Nachbarn und Freunde.

1994 ermordeten in Ruanda Hutu-Milizen innerhalb von gut 3 Monaten fast 1 Millionen Menschen, vor allem aus der Tutsi-Minderheit.

Der Auftakt war der Abschuss eines Flugzeuges im Anflug auf die Hauptstadt Kigali. Zwei Raketen trafen am Abend des 6. April die Maschine des Präsidenten Juvénal Habyarimana, als er aus dem Ausland heimkehrte.

Am folgenden Morgen explodierte der dicht besiedelte Kleinstaat im Herzen Afrikas. Überall im Land stürzten sich Gruppen von Hutu auf Angehörige der Tutsi-Minderheit und erschossen, erschlugen oder zerhackten ihre Nachbarn.

Statt den Massenmord zu verhindern, beteiligten sich Polizisten und Armee-Angehörige.

Am 12. April evakuierten US-Soldaten mit Autokonvois die in Ruanda festsitzenden Ausländer. Amerikaner, Belgier, Italiener, Franzosen und Deutsche wurden ausgeflogen. "Die Evakuierung war für die Völkermörder das Signal zu Apokalypse." schrieb Romeo Dallaire (Kommandeur von 2.500 UNO-Soldaten in Ruanda).

Die Grausamkeiten des folgenden Genozids endeten erst Ende Juli, als die von Uganda aus vorstoßenden RPF-Tutsi Rebellenarmee das ganze Land eingenommen hatte. In panischer Furcht vor der Rache der Sieger flohen Hunderttausende in Nachbarländer. Eine Zeitlang wirkte das einst übervölkerte Ruanda wie ein leeres Land.

Die Tutsi tot, die Hutu geflohen.

Unter diesen Umständen können wir nicht anders, als zu fragen: Was hat die "bösen" Samen in den Herzen der Hutus gesät, und was hat diese ansonsten einfachen Zivilisten dazu gebracht, ihre Landsleute gnadenlos abzuschlachten? 


Ein weiteres berühmtes Beispiel für den Luzifer-Effekt sind die Hexenprozesse von Salem

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts fand die bereits mehrere Jahrzehnte andauernde Hexenverfolgung in Neuengland in den USA ihren traurigen – und bis heute berüchtigten – Höhepunkt.

Bei den Hexenprozessen von Salem, einem Dorf im US-Bundesstaat Massachusetts, wurden zwischen 1692 und 1693 über 200 Menschen wegen Hexerei und Teufelsanbetung angeklagt. Die jüngste Angeklagte war die vier Jahre alte Dorothy „Dorcas” Good. Während der Prozesse wurden 33 Menschen letztendlich schuldig gesprochen und 20 von ihnen hingerichtet, davon 19 durch Erhängen. Fünf Menschen starben bereits im Gefängnis durch die unmenschliche Behandlung, und 55 Menschen wurden unter der Folter zu Falschaussagen gezwungen.

1693 fanden die Hexenprozesse dann ein Ende, bevor alle der schuldig gesprochenen hingerichtet werden konnten.


Im Folgenden sind die psychologischen Prozesse aufgelistet, welche Dr. Zimbardo und seine Kollegen identifizierten und als Komponenten des Luzifer-Effekts kategorisierten.


Zugehörigkeit zu einer Gruppe.

Solomon Asch vertrat die Theorie, dass bestimmte soziale Zwänge uns manchmal dazu bringen, Verhaltensweisen auszuführen, die unseren eigenen Werten widersprechen. Wofür? Für Akzeptanz innerhalb der Gruppe.


Gehorsam gegenüber einer Autorität.

Stanley Milgram beschrieb dieses Phänomen beispielsweise in Gruppen mit einer Militär- oder Polizeihierarchie. Viele Menschen seien hier in der Lage, Gewalttaten zu begehen, ohne Verantwortung zu übernehmen, wenn sie gerechtfertigt oder von höherrangigen Personen angeordnet worden seien.


Moralische Trennung.

Albert Bandura kam zu dem Schluss, dass Menschen ihre eigenen moralischen Codes und Wertesysteme aufbauen. Manchmal vollziehen sie jedoch mentale Pirouetten. Dann handeln sie ihren Prinzipien völlig entgegengesetzt. Es kann sogar zu dem Punkt kommen, an dem sie etwas moralisch absolut Inakzeptables für korrekt erachten.


Umweltfaktoren.

Dr. Zimbardo erfuhr, dass die Soldaten, die im Abu-Ghuraib-Gefängnis eingesetzt waren, an sieben Tagen in der Woche in 12-Stunden-Schichten arbeiteten – über 40 Tage ohne Pausen. Es ging sogar so weit, dass sie selbst in Zellen schliefen. Außerdem war die gesamte Einrichtung in einem schlechten Zustand. Schimmelbefall, Blutflecken und Exkremente an den Wänden. Sie mussten zudem bis zu 20 Mörserangriffe pro Woche aushalten.

Dr. Zimbardo versuchte allerdings nicht, die Handlungen der angeklagten Soldaten zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Er machte sie ganz sicher nicht zu Opfern. Stattdessen wollte er eine wissenschaftliche Erklärung dafür liefern, wie bestimmte Umstände unser Handeln leiten können.

 

Zimbardo fasste seine Ergebnisse 2007 in dem Buch „Der Luzifer-Effekt“ zusammen.

Er gelangte zu folgender These: Nicht die Veranlagung bringt Menschen dazu, Böses zu tun. Es ist die Situation, in der sie sich befinden.

Die situationsbedingten Faktoren, die soziale Dynamik und der psychologische Druck können in jedem von uns große Übel verursachen. Wir tragen diesen “Samen” in uns, ob wir es nun wollen oder nicht.

Der Mensch wird nicht böse geboren. Die Macht der Umstände schafft Täter und Opfer. Jeder kann sich in ein menschliches Monster verwandeln. Die Geschichte liefert zahllose Beispiele.

Quelle: Gedankenwelt.de, Spiegel.de, nationalgeographic.de, wikipedia.org


Vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

von Richard Petersen 11. April 2025
Wie Farben unsere Emotionen und Entscheidungen beeinflussen
von Richard Petersen 4. April 2025
Die Psychologie der nonverbalen Kommunikation
von Richard Petersen 28. März 2025
Wie der Wechsel der Uhrzeit unsere Psyche aus dem Takt bringt
von Richard Petersen 21. März 2025
Depressionen bei Kindern und Jugendlichen
von Richard Petersen 14. März 2025
Wie Kinder aggressives Verhalten erlernen
von Richard Petersen 7. März 2025
Der Marshmallow-Test
von Richard Petersen 28. Februar 2025
Das Edwards Gesetz
von Richard Petersen 21. Februar 2025
Der Halo-Effekt
von Richard Petersen 13. Februar 2025
Der Concorde-Effekt
von Richard Petersen 7. Februar 2025
Das "Asch-Experiment"
Weitere Beiträge