Post-Olympia-Depression
Wenn die Flamme erloschen ist
Das olympische Feuer in Paris ist erloschen, die Abschlussfeier im Stadion abgeschlossen und damit sind die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris nun offiziell vorbei. Mittlerweile sind die meisten Athlet*innen wieder zuhause angekommen, manche von ihnen mit Medaillen geschmückt.
Während die Fans einfach wieder zu ihrem gewohnten Alltag übergehen können, ist dies für die Olympioniken nicht immer einfach. Es kann sogar verdammt schwierig sein.
Ob Medaille oder nicht: Olympia kann das Leben eines Athleten oder einer Athletin nachhaltig verändern. Viele Sportler leiden nach den Spielen zumindest zeitweise an einer "Post-Olympia-Depression". Es entsteht ein Problemfeld, auf das nicht jeder einfach so vorbereitet ist.
Fast drei Wochen lang blickte die Welt auf die Athlet*innen, die bei den Olympischen Spielen in Paris an ihre Grenzen und vielleicht sogar darüber hinaus gegangen sind. Männer und Frauen, die alle nur denkbaren Emotionen hervorgerufen haben: Euphorie, Freude, Erleichterung, Schock, Enttäuschung, Verzweiflung, Angst, Wut und Aufregung.
Es sind diese Emotionen, die die Olympischen Spiele ausmachen, diese Momente der Befreiung nach so vielen Jahren harter Arbeit. Doch sobald die große Show zu Ende geht und die Athleten nach Hause zurückkehren, können all diese Emotionen, diese Höhepunkte, insbesondere für diejenigen, die eine Medaille gewonnen haben, in eine "post-olympische Depression" übergehen.
Dieses Phänomen ist noch relativ unerforscht und wurde von den Athlet*innen selbst hervorgehoben. „Es verhält sich in etwa so wie bei jedem, der lange Zeit etwas Bestimmtes getan hat“, erklärte einst Apolo Ohno, der höchstdekorierte US-Winterolympionike. „Du warst gut, sehr gut. Und dann, mit einem Fingerschnippen, ist alles zu Ende und du musst wieder gehen und etwas anderes machen.“
Wie geht es weiter? Das ist die Frage, die den Sportlern in Pressekonferenzen nach ihren Wettkämpfen oft gestellt wird. Was macht man, wenn man sein Lebenswerk vollbracht hat? Was passiert, wenn man nach Hause geht, nachdem man plötzlich berühmt geworden ist? Wohin geht man, wenn man in der größten Show der Welt mitspielt? Was macht man, wenn man noch vier Jahre warten muss, um seine Ziele zu erreichen?
Unter anderem Judoka und Fahnenträgerin Anna-Maria Wagner litt nach ihrem Medaillen-Gewinn von Tokio 2021 an mentalen Problemen. „Für mich war es am Anfang irgendwie schwer zu verstehen, dass man so ein erfolgreiches Jahr hat und dass es dann wie so eine Wesensveränderung in dem Moment ist und dass ich da schon auch drunter gelitten hab", berichtet Wagner.
Eine weitere Athletin, die diese Gefühle gut kennt, ist die Schweizer Schützin Nina Christen. Nach ihrem Olympiasieg in Tokio verfiel die 30-Jährige in eine post-olympische Depression. Sie sprach von Energiemangel, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und Migräne.
Auch Michael Phelps, der erfolgreichste Olympionike aller Zeiten, sagte nach seinem Rücktritt, er sei in eine tiefe Depression gefallen. In London sagte er, er wollte nicht mehr leben, nachdem er vier Gold- und zwei Silbermedaillen gewonnen hatte. Er verbrachte Tage in seinem Zimmer, ohne zu essen oder zu schlafen.
„Man hat die Olympischen Spiele im Blick und schuftet vier Jahre dafür. Dann sind die Spiele plötzlich vorbei und man fragt sich: Was zum Teufel soll ich tun? Wer bin ich eigentlich?“, sagte Michael Phelps, der insgesamt 28 olympische Medaillen erschwamm, 2021 in einem Interview gegenüber der Washington Post.
Nach den Olympischen Spielen in ein anderes, normales Leben zurückzukehren und sich wieder daran zu gewöhnen, kann schwierig sein. Und da jeder zu seinen eigenen spezifischen Belastungen zurückkehrt, kann bei manchen eine gewisse Traurigkeit anhalten, Wurzeln schlagen und in Depressionen übergehen, auch oder gerade bei Sportler*innen, die Goldmedaillen gewonnen haben.
„Man ist im Hochgefühl und hat keine Möglichkeit, abzuschalten und sich zu entspannen. Es ist, als wäre man in einem Hoch und plötzlich fällt man von dieser Klippe herunter“, sagt Allison Schmitt, eine amerikanische Schwimmerin, die zehn olympische Medaillen gewonnen hat, vier davon goldene, gegenüber CNN Sport.
„Wir können im Fernsehen als Übermenschen dargestellt werden, und wir können uns wie Übermenschen fühlen, wenn wir eine Goldmedaille nach der anderen gewinnen, aber irgendwann hat jeder Höhepunkt ein Tief, und es ist in Ordnung, dieses Tief zu haben, aber es ist nicht in Ordnung, sich zu isolieren, wie ich es getan habe.“
„Wenn man von den Olympischen Spielen zurückkommt, hört man oft, dass die Leute sich wünschen, sie wären an deiner Stelle, dass du so viel Glück hättest, dass sie alles für diese Goldmedaillen tun würden“, fügt sie hinzu, warnt aber: „Ich glaube nicht, dass sie wissen, was für diese Medaillen nötig war, all die Opfer, all die harte Arbeit, all die körperliche, geistige und emotionale Belastung.“
Als sie merkte, dass sie nicht mehr die übliche fröhliche und optimistische Person war, begann sie sich zu isolieren. „Ich ging schlafen, denn wenn ich schlafe, kann ich diese Dinge wenigstens nicht spüren. Und so weinte ich mich in den Schlaf.“
Nachdem sie glaubte, den Tiefpunkt erreicht zu haben, beschloss die Amerikanerin 2015, Hilfe zu suchen, was ihr allerdings nicht leichtfiel. „Ich wollte nicht, dass es so aussieht, als würde ich mich beklagen, denn schließlich war ich sehr dankbar für meinen Erfolg... aber es war definitiv eine Zeit, in der ich mich nicht als Mensch fühlte, denn viele Leute sahen mich als Objekt an.“
Sie wollte ihrem Leben ein Ende setzen, so wie ihr 17-jähriger Cousin im Mai 2015 Suizid beging. So begann die Athletin ihre therapeutische Reise, die sich über Jahre hinzog. Dazwischen kamen vier weitere olympische Medaillen, erst in Rio, dann in Tokio.
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) will auf die Problematik reagieren und war auch in Paris wieder mit vier Sportpsychologen, sogenannten Welfare-Officern, im Einsatz. „In erster Linie sind wir Anlaufstelle, Ansprechpartner für alle Anliegen rund um mentale Gesundheit, aber auch Schutz vor interpersonaler Gewalt und bieten da den übergreifenden Blick auf alles“, sagt Welfare-Officer Birte Steven-Vitense. Aber auch die „Post-Olympia-Depression“ ist etwas, womit sich Steven-Vitense und ihre Kollegen beschäftigen. Es lasse sich als Zustand definieren, in dem man körperlich und mental total erschöpft sei und eine tiefe Traurigkeit empfinde.
„Man kann Olympiasieger werden und trotzdem mental nicht ganz gesund sein“, sagt Steven-Vitense. Das sei auch etwas, was sie den Athleten und Athletinnen immer wieder vermitteln wolle, dass „mentale Stärke und mentale Gesundheit nicht gleichgesetzt werden darf“. Man könne sportlich starke Leistungen bringen und trotzdem einen Kampf mit mentalen Problemen führen.
Die "Post-Olympia-Depression" könne prinzipiell jeden Athleten treffen, jedoch sind Medaillengewinner wie Judoka Anna-Maria Wagner im Moment ihres Triumphs noch einmal im Besonderen einer unglaublichen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit ausgesetzt.
Forschende auf diesem Gebiet sind sich einig, dass es für Athlet*innen wichtig ist, nach Großereignissen wie den Olympischen Spielen mehr über negative Gefühle zu sprechen, um sich selbst und anderen zu helfen und die Stigmatisierung des Phänomens zu beseitigen.
Oft gehe es bei den Problemen nach einem großen Sportereignis auch um die Frage der Identität der Sportler. Es geht um Druck, der da entsteht. Habe ich eine Identität nur als Athlet? Dann trifft mich ein Abschneiden bei einem sportlichen Großereignis noch mal anders, als wenn ich eine Identität aufgebaut habe, die ganz facettenreich ist.
Umgekehrt ist ein Olympiasieger in der öffentlichen Wahrnehmung eben immer der Olympiasieger. Das kann dazu führen, dass man auch nur noch so wahrgenommen wird und dass nicht die Anteile, die einen als Person ausmachen, im Fokus stehen.
Um mentale Probleme im Sport zu enttabuisieren, wünscht man sich mehr Athleten, die mit dem Thema in die Öffentlichkeit gehen. Letztendlich ist es ein Geschenk für alle Beteiligten, wenn psychische Belastungen ausgesprochen werden. Weil man dann weiß: Ganz große, tolle Athleten, die wahnsinnig tolle Leistungen gebracht haben, haben auch einen Kampf mit diesem Thema.
Nach der massiven mentalen und körperlichen Anstrengung, die olympische Spiele bedeuten, schwindet das Adrenalin und die Erschöpfung wird spürbar. Athleten*innen, die bereits Pläne für die Phase nach der Rückkehr gefasst hatten, sei es ein Urlaub, eine Rückkehr an den Arbeitsplatz oder vielleicht sogar ein großer persönlicher Plan wie, eine Hochzeit, litten übrigens deutlich seltener an einer Post-Olympia-Depression.
Ähnlich entscheidende Faktoren waren das Ausmaß an sozialer Unterstützung, die den Sportlern entgegengebracht wurde, sowie die Beurteilung der eigenen Leistung. Wenn die erbrachte Leistung den Erwartungen entsprach oder sogar besser war, war die Wahrscheinlichkeit nach der Rückkehr, in ein psychisches Loch zu fallen, geringer. Dabei war es spannenderweise nicht wichtig, ob die Sportler*innen objektiv erfolgreich gewesen waren, es war lediglich der subjektive Erfolg entscheidend.
Quelle: bluewin.ch, absolutpsychologisch.de, zdf.de
Für alle begeisterten Olympia-Zuschauer, die auch ein wenig Post-Olympia-Blues verspüren, gilt: Nicht mehr lange und das nächste Top Event steht vor der Tür. Am 28. August starten die Sommer-Paralympics in Paris.
Vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,
Richard
P. S. Wenn ich die maskuline Schreibweise verwendet habe, dann nur für die bessere Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.