Urgency Culture
Der Fluch der ständigen Erreichbarkeit
Was macht es mit uns, ständig erreichbar zu sein und alles sofort zu erledigen?
Dank Internet und Echtzeitkommunikation leben wir in einer "Urgency Culture", also einer Dringlichkeitskultur. Alles erste Priorität, alles muss sofort passieren. Was macht das mit uns und unserer Gesundheit? Und wie kommen wir da raus?
Du schaust auf dein Smartphone und siehst direkt vier Notifications aufblinken. Egal, wie sehr du nun versuchst, in Ruhe weiterzuarbeiten – du kannst dich einfach nicht konzentrieren, bis du alle Push-Nachrichten abgearbeitet hast. Du könntest ja schließlich was verpassen. Du bewunderst Menschen, die ihr Smartphone einfach weglegen können, obwohl auf dem Home-Bildschirm an diversen Apps kleine rote Zahlen aufleuchten – du schaffst das nicht. Dein Wunsch nach Ordnung und danach, alles erledigt zu haben, zwingt dich dazu, die App zu öffnen, sodass die Notification verschwindet – selbst wenn die Nachricht selbst gar nicht relevant ist.
Mit diesem Gefühl bist du nicht allein. In Zeiten, in denen das Internet mit all seinen Möglichkeiten nur einen Klick auf dem Smartphone entfernt ist, haben viele Menschen, vor allem jüngere – also solche, die sich kaum noch an Offline-Zeiten erinnern können –, Probleme damit, mal ganz bewusst die Finger davon zu lassen. Die Hände wandern oft wie ganz von selbst zum Handy, immer auf der Suche nach dem nächsten Dopamin-Kick – "Oh, eine Nachricht!".
Aber dieses kleine Glücksgefühl kann auch ganz schnell umschlagen in ein Gefühl des Drucks, des Nicht-abschalten-Könnens, bis wir gesehen oder gelesen haben, was jemand uns geschrieben hat oder welche aktuelle Nachricht in der Sport-App auf uns wartet.
Ähnlich verhält es sich mit der Beantwortung von Nachrichten: Auch da fällt es den meisten von uns immer schwerer, sich zu gedulden. "Bei WhatsApp sind doch zwei Haken an der Nachricht, die Person hat sie also gelesen – wieso antwortet sie nicht sofort?"
Eben weil wir (je nach Einstellung in der App) sehen können, wann jemand zuletzt online war und ob und wann unsere Nachricht gelesen wurde, erwarten wir auch sofort eine Antwort. In früheren Zeiten von SMS oder gar Anrufen konnten wir nicht tracken, ob jemand unsere Kontaktaufnahme schon gesehen hat. Also haben wir uns eben geduldet, bis wir etwas von unserer Freundin oder dem Partner zurückgehört haben.
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Diese Tendenz der Ungeduld lässt sich auch im Job beobachten. Während vor ein paar Jahren noch die meisten Anliegen per E-Mail geklärt wurden, wird heute in vielen Unternehmen via Chat, also in Echtzeit, kommuniziert, etwa mit Tools wie Teams oder Slack.
Auch hier können wir in der Regel kontrollieren, ob unser Gegenüber unsere Nachricht gelesen hat. Entsprechend wollen wir auch sofort eine Antwort haben. Es ist schließlich dringend!
Beide Beispiele sind Symptome der sogenannten Urgency Culture, der Dringlichkeitskultur. Alles muss sofort passieren, durch die ständige Verfügbarkeit von praktisch allem haben wir verlernt, auf etwas zu warten.
Unsere Gesellschaft vermittelt uns das Gefühl, dass wir ständig erreichbar sein müssen, ständig "on" – und zwar sowohl beruflich als auch privat. Das sorgt für eine starke erhöhte Wachsamkeit. Diese Hypervigilanz, also Über-Wachheit, macht uns signifikant gestresster und ängstlicher. Angstgefühle wiederum fördern das Gefühl der Dringlichkeit, was einen Teufelskreis kreiert.
Ein weiteres Problem der ständigen Erreichbarkeit und des permanenten "Online-Seins": Das menschliche Gehirn ist nicht für Multitasking gemacht. Gleichzeitig eine Unterhaltung führen, eine E-Mail lesen und etwas essen? Schwierig. Darüber hinaus sorgt das ständige Multitasking auch dafür, dass wir uns kaum noch auf eine Sache konzentrieren können.
Die ständige Überstimulation, die die Urgency Culture mit sich bringt, sorgt darüber hinaus für eine Desensibilisierung des Dopaminsystems. Irgendwann reicht also vielleicht nicht mehr nur das Öffnen einer Notification, wir brauchen dann mehr. Das wiederum kann dafür sorgen, dass es schwieriger wird, Momente der Freude zu spüren.
Und schlechter konzentrieren können wir uns am Ende auch. Denn wenn unser Gehirn überfordert ist mit der Fülle an Informationen, die auf es einprasseln, und ständig schnelle Entscheidungen treffen muss, kann es verlernen, konzentriert und ohne Ablenkung an einer Aufgabe zu arbeiten.
Teil der "Always on"-Kultur zu sein, erfordert oft Multitasking. Die Forschung zeigt jedoch, dass dem menschlichen Gehirn die neurokognitive Architektur fehlt, um zwei oder mehr Aufgaben gleichzeitig auszuführen.
Jedes Mal, wenn wir Multitasking betreiben, verlangsamt es das Gehirn und kann die Produktivität um bis zu 40 Prozent reduzieren.
Es behindert auch das reflektierende Denken. Wenn das Gehirn von der ständigen Notwendigkeit, Informationen zu verarbeiten und Entscheidungen schnell zu treffen, überfordert ist, greift es oft auf oberflächliches Denken zurück. Dies beeinträchtigt Ihre Fähigkeit, sich auf intensive Arbeit einzulassen, die lange Phasen ablenkungsfreier Konzentration erfordert.
Aber nicht nur unsere geistigen Fähigkeiten und unsere psychische Gesundheit können darunter leiden, dass wir ständig erreichbar sind und alles sofort machen, haben und erfahren können.
Auch auf körperlicher Ebene drohen gesundheitliche Folgen.
Unser Nervensystem kann nämlich erst mal nicht zwischen einem auf uns zurasenden Auto und einer aufploppenden E-Mail unterscheiden – beides signalisiert ihm Gefahr, also setzt es die entsprechenden Reaktionen in Gang.
Unsere Atmung wird schneller, unser Puls und unser Blutdruck steigen, wir schütten Adrenalin aus.
Verbleiben wir länger in diesem Zustand, und das tun wir häufig, wenn unser Smartphone uns permanent mit Nachrichten und App-Notifications bombardiert, kann das für Verspannungen sorgen, unseren Schlaf beeinträchtigen und Entzündungen im Körper fördern. Auch ein Burnout könne die Folge sein, wenn es uns nicht mehr gelingt, den Stress der ständigen Erreichbarkeit und der vermeintlichen Dringlichkeit zu regulieren.
Was aber hilft? Wie kommen wir aus dem Teufelskreis der ständigen Erreichbarkeit, des Multitaskings und des Gefühls, alles sofort erledigen zu müssen, wieder heraus?
Grundsätzlich gilt: Wenn es dir mental nicht gut geht, kann es immer hilfreich sein, mit einer Ärztin oder einem Therapeuten zu sprechen, damit ihr gemeinsam Strategien entwickeln könnt, die dir helfen, mit der Situation umzugehen.
Solltest du betroffen sein, ruf mich gerne ganz unverbindlich an. :-)
Kurzfristig können aber vielleicht diese Tipps helfen.
1. Grenzen setzen
Das Gefühl, permanent online und immer für alles und jeden verfügbar sein zu müssen, kann uns krank machen. Ein wichtiger erster Schritt ist es deshalb, sich abzugrenzen. Das kann vor allem im Job wichtig sein. Falls du dein berufliches E-Mail-Programm und die Chat-App, etwa Teams, auf deinem (privaten) Smartphone installiert hast, schmeiß sie am besten herunter. Du musst außerhalb deiner Arbeitszeiten nicht erreichbar sein. Und auch im privaten Bereich könntest du Freunden oder Familienmitgliedern, die eine sofortige Beantwortung ihrer Nachrichten fordern, sagen, dass du zu einem späteren Zeitpunkt in Ruhe schreibst.
2. Digital Detox
Wenn du das Gefühl hast, dass Social-Media-Apps wie Instagram, TikTok und Co. dir sehr viel Zeit stehlen und dazu beitragen, deine Aufmerksamkeitsspanne immer weiter zu verkürzen, dann kann die simple Lösung oft kalter Entzug sein. Lösche eine oder mehrere Apps von deinem Smartphone, vielleicht für eine Weile oder sogar für immer. So bekommt dein Gehirn die Chance, zur Ruhe zu kommen und auch wieder zu lernen, sich für längere Zeit auf etwas zu konzentrieren.
3. Bewusstes Singletasking
Womöglich kann es dir auch helfen, dich ganz bewusst im Singletasking zu üben. Also statt parallel halbherzig an drei Sachen zu arbeiten, gestalte dir eine nach Prioritäten geordnete To-do-Liste. Arbeite sie dann ganz in Ruhe Punkt für Punkt ab – und übe so, mal wieder nur eine Sache zur Zeit zu machen.
4. Achtsamkeit
Das beste Mittel gegen ein zu hohes Tempo ist: Langsamkeit.
Indem du Achtsamkeitspraktiken wie Yoga, Meditation oder ganz simple Atemübungen in deinen Alltag integrierst, kannst du trainieren, Dinge ganz bewusst zu tun und dabei nicht sofort in den Autopilot-Modus zu rutschen. So schaffst du es vielleicht nach einer Weile, wieder mehr im Hier und Jetzt zu sein – anstatt in Gedanken ständig schon zum nächsten Schritt zu springen.
5. Smartphone-Zeit begrenzen
Die meisten Smartphones bieten Funktionen an, mit denen du deine tägliche Bildschirmzeit pro App begrenzen kannst. So brauchst du vielleicht keinen kompletten Detox, lernst aber, damit zu leben, nicht 24 Stunden am Tag auf Insta und Co. aktiv zu sein.
Vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,
Richard
P. S. Für die bessere Lesbarkeit habe ich die maskuline Schreibweise verwendet. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.