Toxic Positivity
Good vibes only?
Warum auch negative Gedanken wichtig sind.
Immer positiv denken? Besser nicht. Wer negative Gedanken und Gefühle dauernd beiseiteschiebt, macht es sich noch schwerer. Wie man eine gute Balance aus guten und schlechten Gedanken hinbekommt.
Die gute Nachricht zuerst: Optimismus ist eine Eigenschaft, die uns nachweislich länger und gesünder leben lässt. Es macht also schon Sinn, das Leben grundsätzlich von der positiven Seite aus zu betrachten. Es darf eben nur nicht zu positiv werden. Sobald wir uns ausschließlich auf die Sonnenseite setzen und ignorieren, dass auch der Schatten seine Berechtigung hat, wird es schnell ungesund.
"Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden“, sagte Mark Twain einst.
Der berühmte Schriftsteller war wohl ein optimistischer Mensch.
So weit, so gut. Aber wenn wir uns den Satz einmal genauer ansehen, dann hat er auch etwas Forderndes an sich.
Nehmen wir an, wir folgen dem Rat von Mark Twain und versuchen ab jetzt, aus wirklich jedem einzelnen Tag das allerbeste herauszuholen, was geht. Das könnte schnell in Stress ausarten.
Natürlich müssen wir den Satz auch nicht überinterpretieren. Aber er zeigt sehr schön, wie fließend die sprachlichen Grenzen zwischen Optimismus und Toxischer Positivität, zwischen Mutmacher und Druckmacher sein können.
Blöderweise haben wir alle ab und an toxische Sätze verinnerlicht, weil sie viel geläufiger sind, als man erwartet.
Über positive Emotionen und den Umgang mit ihnen haben die meisten von uns ein gutes Wissen. Die negativen Gefühle kommen allerdings oft zu kurz. Es ist aber wichtig, die ganze Bandbreite an Gefühlen zuzulassen. Das hat verschiedene Gründe.
Wenn man die negativen Gefühle unterdrückt, gehen sie in den Keller und machen dort Krafttraining. Und irgendwann kommen sie dann stärker zurück.
Ein anderer sehr anschaulicher Vergleich: Unterdrückte negative Gefühle sind wie ein Ball, den man unter Wasser drückt. Irgendwann kommen sie mit Wucht an die Oberfläche.
Außerdem sind unangenehme Gefühle aus einem weiteren Grund sehr wichtig.
Negatives gehört einfach dazu. Wir könnten das Positive nicht so genießen, wenn es nicht den Kontrast zum Negativen gäbe. Aber negative Emotionen sind noch mehr als ein Gegensatz zum Schönen. Sie geben uns wichtige Hinweise darauf, dass etwas nicht stimmt.
In der ganzen Geschichte der Evolution haben Gefühle wie Angst, Wut, Trauer und Scham Menschen als wichtige Hinweisgeber beschützt.
Scham schützt vor sozialem Ausschluss, Angst vor Gefahren. Wut weist auf eine Ungerechtigkeit hin oder zeigt, dass ein hoher Wert verletzt wurde und man für sich einstehen sollte.
Grund genug, sich auf negative Gefühle einzulassen - und eigentlich können wir auch gar nicht anders. Unser Gehirn sucht ständig nach etwas, das nicht okay oder sogar gefährlich ist. Das hat den Menschen früher ihr Überleben gesichert.
Heute brauchen wir diesen Schutz nicht mehr - eigentlich. Trotzdem sind negative Emotionen auch heute noch nützlich. Sie geben notwendige Hinweise darauf, dass es gerade um etwas Wichtiges geht.
Wir ärgern uns etwa über unseren Partner, weil wir ein großes Interesse haben, dass unsere Beziehung funktioniert.
Daher sollten wir einem schlechten Gefühl auch Aufmerksamkeit widmen.
Nur eben nicht zu viel, und zwar wegen der sogenannten „Negativitätsverzerrung“.
Wir nehmen negative Emotionen nämlich viel stärker wahr.
Das bedeutet: Damit wir im emotionalen Gleichgewicht sind, brauchen wir ein Verhältnis von drei zu eins: Drei positive Emotionen wiegen eine negative Emotion auf.
Das stellt sich auf Instagram und Co. ganz anders dar. Glückliche Menschen, tolle Erlebnisse, perfekte Umgebungen.
In den sozialen Netzwerken zeigen die meisten nur das Beste von sich. Aber es handelt sich eben um Ausschnitte, das vergessen wir manchmal zu gerne.
Soziale Medien funktionieren bei Phänomenen wie der Toxic Positivity wie ein Verstärker. Sie sorgen dafür, dass sich Floskeln wie #goodvibesonly weiter und schneller verbreiten.
Aktuell kannst du 14.663.781 Einträge bei Instagram unter dem #goodvibesonly finden. Natürlich gibt es noch andere verwandte Hashtags wie #positivity oder #positivegedanken.
Sie alle haben gemeinsam, dass sie mit lächelnden Gesichtern, einem einzigartigen Lifestyle oder Sinnessprüchen das Positive betonen. Negative Gedanken sind hier nicht erwünscht. Kein Wunder, denn erfahrungsgemäß sorgen positive Inhalte für mehr Likes und diese wiederum sprechen das Belohnungszentrum im Gehirn an und lösen Glücksgefühle aus.
Umso wichtiger ist es, offline für eine gute Balance aus negativen und positiven Gefühlen zu sorgen. Aber wie kann das gelingen?
Die Gefühle annehmen, auch die negativen, aber nicht grübeln, nicht in schlechten Momenten verharren. Und immer wieder auch auf positive Momente hinarbeiten.
Damit du nicht aus Versehen auch in die sprachliche toxische Positivität rutschst, zeige ich dir exemplarisch einige Sätze, die zwar gut gemeint, aber toxisch sind – und verrate dir hilfreiche Alternativen.
"Es gibt Schlimmeres“
Vermutlich wahr, aber bestimmt nicht hilfreich. Sicher hast du diesen Satz schon einmal gehört. Vielleicht, als du mit Liebeskummer und einer Packung Eiscreme einer Freundin dein Herz ausgeschüttet hast.
Hat es dir in dem Moment geholfen zu hören, dass es auf dieser Welt noch Schlimmeres gibt? Ich glaube nicht.
So sehr wir es manchmal wollen, wir können nicht nachempfinden, was andere Menschen fühlen. Jemandem also zu sagen, dass es Schlimmeres gibt, während dieser augenscheinlich gerade leidet, ist schon irgendwie anmaßend. Auch wenn die Intention sicher eine andere ist. Stattdessen schmälert er mit diesem Satz die Berechtigung, sich über das empfundene Leid zu beklagen.
Dabei reicht es oftmals schon aus, einfach da zu sein und zuzuhören, wenn jemand seine Sorgen mit uns teilt.
"Sieh es doch mal positiv“
Halleluja!!! Toxische Positivität wie sie leibt und lebt. Wahr ist, dass wir in der Hand haben, wie wir auf die Ereignisse in unserem Leben reagieren. Rein theoretisch könnten wir uns also entscheiden, einen Schicksalsschlag auch positiv zu sehen.
Wenn wir jetzt aber einen geliebten Menschen verloren haben, ist das in der Umsetzung schon wieder schwieriger. Wer Gefühle wie Trauer, Angst und Schuld nicht zulässt, der wird sie früher oder später (siehe oben) doppelt stark serviert bekommen.
Klar, irgendwann sollten wir versuchen, jeder Krise etwas Positives abzugewinnen, um möglichst daraus zu lernen – aber wann das der Fall ist, das ist individuell unterschiedlich.
Wenn wir es gut mit unserem Gegenüber meinen, dann könnten wir also stattdessen sagen: "Ich verstehe, dass die Situation blöd ist und ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.“
"Alles wird gut“
Guter Versuch, aber eine sehr gewagte These. Vor allem dann, wenn sich unser Gegenüber gerade in einer Lebenskrise befindet. Wenn wir leiden, dann leiden wir. Wenn dann jemand zu uns sagt, dass schon alles gut werden wird – dann prallt dieser Satz einfach so an unserer Trauermauer ab. Er kommt nicht durch, weil er so banal klingt in einem Moment voller Sorgen.
Stattdessen lohnt es sich, das Leid einfach als solches anzuerkennen. Traurige Momente und schwierige Phasen gehören zum Leben dazu – warum sie nicht als solche benennen und sagen: "Ja, es ist gerade alles ziemlich blöd.“ Das nimmt den Druck aus der Sache, sich schnellstmöglich wieder gut fühlen zu müssen.
"Denk einfach nicht drüber nach“
Viele Menschen neigen dazu, ihre Probleme einfach zu verdrängen. Den Job verloren? Kein Problem, eine Runde feiern mit den Jungs und die Sorgen sind vergessen. Die Ehe ist gescheitert? Ein schöner Urlaub am Meer wird es schon richten. Natürlich ist es im ersten Moment einfach, das Negative durch etwas Positives auszutauschen. Rein intellektuell sind wir alle dazu in der Lage.
Tun sollten wir es trotzdem nicht, denn verdrängte Gefühle machen nachweislich krank. Die Aufforderung, einfach nicht drüber nachzudenken, ist insofern auch nicht unbedingt hilfreich. Vor allem, wenn sich unser Gegenüber gerade mit seinen Sorgen offenbart, kann das desinteressiert wirken. Übrigens eine Wirkung, die toxisch positive Menschen häufig haben.
Wenn dir also das nächste Mal "Denk nicht drüber nach“ auf der Zunge liegt, sag doch vielleicht lieber so was wie: "Was würde dir denn jetzt gerade guttun?“. Dadurch gibst du dem Leidenden die Möglichkeit der Ablenkung, aber ohne Druck.
Quelle: AOK.de
"Gut gedacht ist nicht gut gemacht!" Vielleicht hilft dir dieser "Merksatz", falls du in die Situation kommst, einer nahestehenden Person in einer Krise, zur Seite zu stehen. Vielleicht ja sogar, bevor dir aus Versehen ein toxischer Rat herausrutscht. ;-)
In diesem Sinne: #allfeelingsarewelcome - alle Gefühle sind willkommen.
Vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,
Richard
P. S. Für die bessere Lesbarkeit habe ich die maskuline Schreibweise verwendet. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.