Co.-Abhängigkeit

Richard Petersen • 12. Juli 2024

"Das Suchtsystem"

Eine Abhängigkeit betrifft nie den Süchtigen allein, sondern zieht auch oft die ganze Familie und den Freundeskreis in den Bann der Sucht. Im Laufe der Jahre entsteht auf diese Weise ein regelrechtes „Suchtsystem“, in das alle Familienmitglieder bewusst oder unbewusst eingebunden werden.

Häufig wird in diesem Zusammenhang von "Co-Abhängigkeit" gesprochen. Dieser Begriff ist jedoch irreführend und nicht geeignet, um die komplexe Situation, in der sich die Angehörigen eines Suchtkranken befinden, adäquat zu erfassen. Schätzungen gehen davon aus, dass deutschlandweit rund acht Millionen Menschen, größtenteils Frauen, co-abhängig sind, wobei die Dunkelziffer ein Vielfaches höher sein mag.


Der Begriff "Co-Abhängigkeit" lässt sich nicht eindeutig definieren, denn bis heute existieren zahlreiche unterschiedliche Erklärungen. In den 1950er Jahren tauchte die Bezeichnung zum ersten Mal auf und erlangte schnell wachsende Popularität.

Tatsächlich gingen einige Mediziner so weit, die Co-Abhängigkeit als eigenständiges Krankheitsbild bzw. als eine Variante der Persönlichkeitsstörung einstufen zu wollen. Hierfür fehlt allerdings die entsprechend belegbare Grundlage. Denn obwohl viele sogenannte Co-Abhängige in ihren Denk- und Verhaltensmustern Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufweisen, ist die Co-Abhängigkeit ebenso wie die Biografie des Suchtkranken immer individuell zu betrachten.


In erster Linie versteht man unter dem Begriff eine Co-Abhängigkeit bei Alkohol.

Darüber hinaus sprechen Mediziner und Psychologen aber auch in vielen anderen Bereichen von Co-Abhängigkeit, und zwar immer dann, wenn der vermeintlich Co-Abhängige mit seinem Verhalten auf die Sucht oder Krankheit einer anderen Person verstärkend interagiert. So wird die Bezeichnung ebenfalls bei der Medikamentenabhängigkeit und Drogensucht, bei stoffungebundenen Süchten und bei Krankheiten wie Borderline oder Ess-Störungen verwendet.


Im allgemeinen Verständnis werden Co-Abhängige als nahe Angehörige eines Suchtkranken beschrieben, welche die Abhängigkeitserkrankung des Partners, des Kindes oder des Elternteils durch das eigene Verhalten bewusst oder unbewusst legitimieren und verstärken.

So ist eine typische Co-Abhängige beispielsweise die Ehefrau oder Partnerin in einer Beziehung, die ihren betrunkenen Mann beim Arbeitgeber krankheitsbedingt entschuldigt, oder die Mutter, die für ihren spielsüchtigen Sohn immer wieder neue Kredite aufnimmt.

Mögliche Gründe für dieses Verhalten sind Liebe, Scham gegenüber der Außenwelt, Schuldgefühle oder Probleme mit dem eigenen Selbstwert. Co-Abhängigkeit ist keine eigenständige Erkrankung.


Die veraltete Erklärung der Co-Abhängigkeit ist nach heutigem Erkenntnisstand überholt und unzulänglich. Zum einen werden die Angehörigen eines Alkoholikers oder eines Drogensüchtigen stigmatisiert, indem ihnen eine Mitschuld an dessen Suchterkrankung eingeräumt wird. Zum anderen wird der komplexen Belastungssituation, in der Partner, Kinder oder Eltern stecken, keine Rechnung getragen.

Deshalb stuft man die Co-Abhängigkeit heute eher als Variante einer Beziehungsstörung bzw. -abhängigkeit ein. Wer co-abhängig ist, hat Probleme, Grenzen zu erkennen, zu ziehen und diese einzuhalten. Das kann bei Betroffenen bis zur vollständigen Selbstaufgabe zugunsten des Suchtkranken führen.


Doch nicht jeder Angehörige wird zwangsläufig co-abhängig. Genaue Zahlen dazu, wie viele Menschen unter Co-Abhängigkeit bei Alkohol oder anderen Suchterkrankungen leiden, gibt es nicht. Die Dunkelziffer ist extrem hoch. Die in den Jahren 2015 bis 2017 durchgeführte BEPAS-Studie zeigt allerdings, wie hoch der Leidensdruck ist: Schätzungsweise 10 Millionen Menschen haben in Deutschland Angehörige mit einer Suchterkrankung.


Im Laufe der Jahre sind zahlreiche Forschungen und Untersuchungen über die Familien von Abhängigkeitskranken durchgeführt worden. Dabei wurde immer wieder verifiziert, dass sich trotz individueller Lebensgeschichte bestimmte Verhaltensweisen ähneln. So lässt sich der Co-Alkoholismus in drei Phasen unterteilen, die allerdings nur als grobe Skizzen zu verstehen sind. Schließlich nehmen die Betroffenen nicht immer den direkten Weg durch alle drei Co-Abhängigkeits-Phasen und auch die Intensität kann unterschiedlich stark ausfallen.


Phase 1: Beschützen

Liebe, Aufmerksamkeit und Fürsorge stehen in dieser ersten Co-Abhängigkeits-Phase im Mittelpunkt. Wenn der Partner zu viel Alkohol trinkt, bringt der Co-Abhängige hierfür zunächst Verständnis auf. Es folgen Erklärungsversuche und Entschuldigungen, die nach außen kommuniziert werden. Der Gedanke, der dahintersteht, ist meist der folgende: Wenn ich meinen Partner mit genügend Liebe unterstütze, wird er sein Problem von allein wieder in den Griff bekommen und mit dem Trinken aufhören.


Phase 2: Kontrollieren

Wenn die Versuche, mit bedingungsloser Liebe und Aufmerksamkeit eine Veränderung im Verhalten des suchtkranken Menschen zu bewirken, gescheitert sind, übernimmt der Partner die Kontrolle über das Leben des Alkoholkranken. Alkoholvorräte werden gesucht und weggeschüttet und der Abhängige wird aus der Kneipe abgeholt, um den Absturz zu verhindern. Ebenfalls nehmen betroffene Kinder immer mehr elterliche Pflichten auf sich, um ein weitestgehend „normales“ Familienleben aufrecht zu erhalten. Nicht selten wird ein komplexes Geflecht aus Ausreden und Lügen aufgebaut, sodass der Schein nach außen hin gewahrt werden kann.


Phase 3: Anklagen

Werden die eigenen Wünsche über Jahre hinweg zurückgestellt, da sich das Leben tagein tagaus nur noch um den Süchtigen und dessen Bedürfnisse dreht, geraten Co-Abhängige früher oder später in die Anklagephase. An die Stelle von Liebe und Zuneigung treten nun Verachtung, Aggression und oftmals sogar Ekel. Vorwürfe und Schuldzuweisungen sind an der Tagesordnung. Der Suchtkranke wird dafür verantwortlich gemacht, dass das Leben aus Sicht des Co-Abhängigen nicht mehr lebenswert ist. Häufig wird jetzt mit Trennung gedroht.


Ob Alkoholsucht, Medikamentenabhängigkeit oder Drogenabhängigkeit – wenn Partner, Kinder oder Eltern in den Strudel der Sucht hineingezogen werden, gibt es für die Betroffenen scheinbar kaum einen Weg, um diesem zu entkommen.

Am schlimmsten ist die Situation in der Regel für Kinder von Alkoholikern oder anderen Suchtkranken. Sie werden in ihrer kindlichen Entwicklung gestört und leiden als Erwachsene häufig unter Bindungsängsten, dysfunktionalen Beziehungen sowie psychischen Störungen. Darüber hinaus werden Kinder von Alkoholikern später oftmals selbst zu Suchtkranken oder suchen sich einen Partner, der abhängig ist.


Auch für die Partner in einer Beziehung ist das Leben als „Co-Alkoholiker“ alles andere als einfach. Schließlich lieben sie ihren Partner und möchten die Beziehung aufrechterhalten. Viele Betroffene werden aufgrund des Drucks und der Belastung krank und leiden unter verschiedenen psychosomatischen Krankheitsbildern oder affektiven Störungen. Besonders häufig treten die folgenden körperlichen und psychischen Erkrankungen bzw. Beschwerden auf:


  • Kopfschmerzen
  • Magen-Darm-Beschwerden
  • Schlafstörungen
  • Rückenschmerzen
  • Depressionen
  • Angststörungen


Mit-abhängige Frauen und Männer geraten darüber hinaus zusehends in eine soziale Isolation. Sie reiben sich in ihren Bemühungen um den Suchtkranken auf, während ihr eigenes Leben außer Kontrolle gerät und ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund rücken.

Nicht selten werden sie früher oder später selbst abhängig und beginnen Alkohol zu trinken oder Medikamente zu schlucken, um ihren Leidensdruck besser bewältigen zu können.


Für Kinder suchtkranker Eltern oder Menschen, die mit einem Alkoholkranken oder einem Drogensüchtigen in einer Beziehung leben, gibt es verschiedene Hilfsangebote.

Während die "Anonymen Alkoholiker" sich mit ihren Selbsthilfegruppen ausschließlich auf die Süchtigen selbst konzentrieren, bieten zum Beispiel "Al-Anon", die "Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe" oder das "Blaue Kreuz" Angehörigengruppen an. Auch der "Bundesverband der Elternkreise suchtgefährdeter und suchtkranker Söhne und Töchter" bietet aktive Angehörigenarbeit an.

Darüber hinaus gibt es in vielen Städten und Gemeinden sogenannte Suchtberatungsstellen. Diese bieten Beratung nicht nur für die Suchtkranken selbst, sondern auch für nahestehende Menschen aus deren Umfeld.

Derartige Gruppen können ebenso präventiv hilfreich sein. Insbesondere bei Kindern in Familien mit suchtkranken Eltern kann der frühzeitige Austausch in einer Selbsthilfegruppe vor schwerwiegenden Entwicklungsstörungen bewahren.


Wenn die emotionale Abhängigkeit und das co-abhängige Verhalten so stark ausgeprägt sind, dass Selbsthilfegruppen allein nicht ausreichend sind, um das eigene Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen, sollte professionelle Hilfe in Form einer ambulanten Psychotherapie in Anspruch genommen werden.

Viele Psychotherapeuten haben sich auf die Behandlung von Menschen spezialisiert, die mit Suchtkranken zusammenleben. Bei einer solchen Co-Abhängigkeits-Therapie geht es nicht nur darum, die eigenen Gefühle, Interessen und Bedürfnisse wieder wahrzunehmen, sondern auch um Abgrenzung und Strategien im Umgang mit dem Süchtigen.


Wer raus aus der (Co-)Abhängigkeit will, muss neben der Bewältigung der eigenen Probleme ebenfalls das Verhalten gegenüber dem Suchtkranken ändern. So gilt es, die Sucht anzuerkennen, als Krankheit zu akzeptieren und die Scham loszulassen. Darüber hinaus sollte die betroffene Person ruhig und gelassen auf den riskanten Konsum und eine mögliche Entzugstherapie angesprochen werden. Dabei sollten keine sofortigen Wunder erwartet werden, denn der Weg aus einer Alkoholabhängigkeit oder Medikamentensucht erfolgt in kleinen Schritten.

Eine Abstinenz ist zwar das langfristige Ziel, aber ebenso sollten erste Schritte wie die Aufnahme neuer Aktivitäten und die Übernahme familiärer Aufgaben entsprechend gewürdigt werden.


Der Weg raus aus der Abhängigkeit verläuft meist weder für die Betroffenen selbst noch für deren Angehörige geradlinig. Rückschritte und Stolpersteine sind oft vorprogrammiert. Deshalb ist es für Angehörige umso wichtiger, ein gesundes Maß aus Unterstützung und Selbstschutz zu finden.


Zu lernen, dem Suchtkranken beizustehen, ohne sich selbst und die eigenen Bedürfnisse dabei zu vernachlässigen, ist ein Prozess, der sich über längere Zeit hinziehen kann. Umso wichtiger ist es, sich Hilfe zu holen.

Quelle: Das Suchtportal.de


Vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Wegen der besseren Lesbarkeit habe ich die maskuline Schreibweise verwendet. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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