Die Leiden des...
Der "Werther-Effekt"
(Triggerwarnung: Bitte bis zum Ende lesen!)
Wetzlar 1772: Ein junger Mann erschießt sich an seinem Schreibtisch, weil er in eine verheiratete Frau verliebt ist und sie ihn abweist. Der Suizid des Carl Wilhelm Jerusalem, Gesandtschaftssekretär von Brunswick, erschüttert die vornehme Gesellschaft.
Besonders betroffen fühlt sich ein enger Freund Jerusalems: Johann Wolfgang von Goethe. Er ist noch jung (26 Jahre alt) und selbst in eine Frau verliebt, die einem anderen versprochen ist. Anderthalb Jahre nach Jerusalems Tod verfasst Goethe seinen Roman "Die Leiden des jungen Werthers". Der Briefroman wurde in ganz Europa ein Bestseller.
Schon bald begannen junge Menschen, es ihrem Idol Werther gleichzutun und begingen Suizid.
Das Buch war so „erfolgreich“, dass sich kurz nach der Veröffentlichung im Jahre 1774 vierzig junge Menschen das Leben nahmen, viele auf eine ähnliche Weise wie der junge Werther. Dieses seltsame und makabre Phänomen führte dazu, dass der Roman in einigen Ländern verboten wurde, wie z. B. in Italien und Dänemark.
Im Laufe der Geschichte haben viele Künstler dem Suizid eine romantische Komponente zugeschrieben, und genau das war der auslösende Faktor für viele der Tode durch den Werther-Effekt.
Die Begriff „Werther-Effekt“ wurde 1974 von dem Soziologen David Phillips geprägt und beschreibt den Nachahmungseffekt bei Suiziden. Der Begriff entstand im Bezug auf Goethes Roman. Ähnliche Fälle analysierend führte Phillips zwischen 1947 und 1968 eine Studie durch, in der er zu aufschlussreichen und auch beunruhigenden Ergebnissen kam. Er fand heraus, dass jedes Mal, wenn die New York Times über den Tod einer berühmten Person berichtete, sich die Suizidrate im Folgemonat um durchschnittlich 12 % erhöhte.
Am Morgen des 7. August 1962 sah sich die Welt mit einer schockierenden Situation konfrontiert. In der Nacht zuvor wurde die berühmte Schauspielerin Marilyn Monroe tot in ihrem Badezimmer aufgefunden. Die Medien bestätigten bald, dass es sich um Suizid handelte. In den darauffolgenden Monaten nahmen sich 303 junge Menschen in den Vereinigten Staaten das Leben.
In den 90er-Jahren, lange Zeit nach diesem berühmten Fall, erlebte die US-amerikanische Bevölkerung etwas Ähnliches, und zwar nach dem Tod von Kurt Cobain. Der "Werther-Effekt" hat es auch hier wieder auf die Titelseiten aller Zeitungen geschafft.
Die 1981 in Deutschland ausgestrahlte Fernsehserie "Tod eines Schülers" hatte zur Folge, dass die Rate der Eisenbahnsuizide unter den 15- bis 19-Jährigen in der Zeit bis 5 Wochen nach Ausstrahlung deutlich zunahm.
Die mediale Berichterstattung über den Selbstmord des Schauspielers Robin Williams im Jahr 2014 könnte viele Menschen zur Nachahmung veranlasst haben. Forscher an der Mailman School of Public Health der Columbia University dokumentierten eine Zunahme von zehn Prozent der Selbstmorde in den Monaten nach dem Suizid des Schauspielers. Vor allem Männer zwischen 30 und 44 Jahren sollen unter den Suizidenten nach Williams Tod gewesen sein. Am stärksten war der Anstieg der Suizide durch Ersticken (32 Prozent).
Auch Williams Todesursache lautete: „Ersticken durch Erhängen“.
Dieses Muster hat sich bis heute fortgesetzt. Mitte 2017 versuchte die Regierung Kanadas, die Netflix-Serie "13 Reasons Why", (Deutsch: "Tote Mädchen lügen nicht") zu verbieten, weil befürchtet wurde, dass sie zu demselben tragischen Effekt führen könnte.
Nach Ausstrahlung der Serie ist Studien zufolge die Zahl der Suizide unter Jugendlichen in den USA gestiegen, und zwar fand man 58 mehr Selbstmordfälle bei 10- bis 17-Jährigen im Monat April, als auf Grund des Trends in den Monaten davor erwartet worden wäre.
Jedes Mal, wenn die Medien von dem Tod einer Berühmtheit berichteten, erschütterte eine Suizidwelle das Land. Aber welche Verbindung besteht zwischen Prominenten und Menschen wie du und ich? Kann es sein, dass diese Menschen eine Art Nachahmungsprozess initiierten, oder handelt es sich einfach um morbide Zufälle?
Hier geht es nicht darum, die Berühmtheiten für den Tod anderer verantwortlich zu machen, sondern darum, solche Nachrichten mit besonderem Feingefühl zu behandeln. Es sollten keine Fotos gezeigt oder Merkmale gezeigt werden, die zur Identifikation mit dem Betroffenen dienen könnten, vor allem dann nicht, wenn Kinder oder Jugendliche betroffen sind.
Es ist wichtig, dass wir den Suizid als Ausweg nicht idealisieren!
Ist es deshalb gefährlich, in den Medien über Suizid zu sprechen?
Ich glaube, es kommt darauf an, wie darüber gesprochen wird, wie auch die Medien einen Suizid darstellen. So sollten Autoren versuchen, möglichst nicht ins Detail zu gehen, und Elemente nicht erwähnen, die Mitgefühl auslösen könnten. Suizide sollten nicht zu einer Nachahmung führen. Dabei versteht es sich wohl von selbst, dass wir auch jede Form von Sensationsgier unterlassen, die Menschen zum Imitieren einer solchen Tragödie verleiten könnte.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sogar für Journalisten einen Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid herausgegeben.
Trotz alledem ist es wichtig, dass man von Suizid spricht. Wir müssen sagen können, dass es immer einen anderen Weg gibt, und es sollte uns möglich sein, diesen Weg denjenigen Menschen zu zeigen, die keinen Ausweg sehen.
Wenn wir ruhig bleiben oder unseren Blick abwenden, werden wir nur zur Stigmatisierung dieses Problems, das immer mehr Menschen betrifft, beitragen.
Wir können, das Thema stets respektvoll angehen, aber mit Nachdruck, und dabei das furchtbare Tabu um den Suizid beseitigen. Versuche, etwas so Reales zu verbergen, bedeuten nicht, dass es nicht existiert, sondern führen nur dazu, dass der Effekt verstärkt wird.
Sideick: Im Jahr 2022 starben in Deutschland insgesamt 10.119 Menschen durch Suizid – das waren fast 28 Menschen pro Tag. Rund 75 % der Selbsttötungen wurden von Männern begangen. Im Vergleich zu 2021 (9.215 Suizide) ist ein deutlicher Anstieg um 9,8 % zu verzeichnen. Insgesamt ist die Zahl der Suizide jedoch in den vergangenen Jahren in Deutschland deutlich zurückgegangen. 1980 nahmen sich beispielsweise noch rund 50 Menschen pro Tag das Leben.
Die am häufigsten gewählte Suizid-Methode war sowohl bei Frauen als auch bei Männern die Selbsttötung durch "Erhängen, Strangulieren oder Ersticken". Die Hälfte aller Männer und nahezu ein Drittel aller Frauen, die Suizid verübten, entschieden sich für diese Art der Selbsttötung. (Quelle: Statista)
Wir sollten einem fiktivem Werk, egal in welcher Form, nicht zuschreiben, dass es Suizid fördere. Das gleiche gilt für Nachrichten. Das allerdings befreit Autoren, Journalisten, Filmproduzenten und andere nicht von ihrer Pflicht, von Suizid in korrekter und respektvoller Weise zu berichten.
Zu der Zeit, als der Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ erschien, hatten wir nicht die gleichen Informationen und Ressourcen, die uns jetzt zur Verfügung stehen.
Es sollte heute viel einfacher sein, seine Gefühle auszudrücken und sich Hilfe zu suchen, als sich das Leben zu nehmen.
Und dabei spielen wir alle eine wichtige Rolle.
Quelle: Gedankenwelt.de
Eine persönliche Anmerkung: Ich bin fest davon überzeugt, dass Menschen mit Suizidgedanken eigentlich viel lieber weiterleben möchten. Sie wollen "bloß", dass die quälenden Gedanken und Emotionen ein Ende haben.
Und dafür gibt es immer einen anderen Weg!!!
Wenn du selbst in letzter Zeit Suizidgedanken hattest oder einen Menschen kennst, bei dem du eine Selbsttötungsabsicht vermutest, solltest du nicht zögern, Hilfe zu holen.
Es gibt viele Möglichkeiten, um mit professioneller Unterstützung eine scheinbar ausweglose Situation zu beleuchten und zu lösen – bei Bedarf auch anonym.
Ruf in einem Notfall immer den Rettungsdienst (112) und teile mit, dass die betroffene Person selbstmordgefährdet ist!
Weitere Angebote für kompetente Hilfe sind u. A.:
Telefonseelsorge
Die Telefonseelsorge steht dir anonym und kostenlos rund um die Uhr zur Verfügung: 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222
www.telefonseelsorge.de
Nummer gegen Kummer
Elterntelefon: 0800 1110550
Kinder- und Jugendtelefon: 0800 1110333
www.nummer-gegen-kummer.de
AGUS – Angehörige um Suizid e.V.
www.agus-selbsthilfe.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)
www.suizidprophylaxe.de
Frankfurter Netzwerk Suizidprävention (Frans)
https://frans-hilft.de/fuer-angehoerige-und-freunde/
Passt immer gut aufeinander auf.
Viele Grüße,
Richard
P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.